19. Jahrestag – NSU-Anschlag in der Kölner Probsteigasse

ERINNERN, ANKLAGEN, HANDELN
Am 19. Januar jährt sich der NSU-Anschlag in der Probsteigasse zum 19. Mal. Zu diesem Anlass werden wir um 17 Uhr eine Gedenkkundgebung am Breslauer Platz durchführen.
 
Anschlag des NSU in der Probsteigasse
Neunzehn Jahre ist es her, dass die nazistische Terrororganisation NSU in einem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse einen Sprengstoffanschlag verübte. Masha M., die Tochter des deutsch-iranischen Geschäftsbesitzers, wurde schwer verletzt und überlebte nur durch Glück. Dieser rassistisch motivierte Bombenanschlag am 19. Januar 2001 war der erste von zwei NSU-Anschlägen in Köln, der zweite traf 2004 die Keupstraße.

Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 und einem fünf Jahre dauernden Prozess vor dem Oberlandesgericht München wurde im Sommer 2018 das Urteil gesprochen. Es war für viele Betroffene erneut ein Schlag ins Gesicht, denn der Prozess hat nicht die versprochene lückenlose Aufklärung gebracht. Die Unterstützer*innen des NSU, der konkrete Tathergang und die staatlichen Verstrickungen sind weiterhin unaufgeklärt.

 
Gerade der Anschlag in der Probsteigasse macht deutlich: Das NSU-Netzwerk war mehr als nur ein Trio, es wurde von anderen Personen verstärkt. Einige von ihnen wurden von staatlichen Verfolgungsbehörden und den Nachrichtendiensten geschützt. Das kleine Geschäft in der unscheinbaren Straße konnten eigentlich nur Menschen als Anschlagsziel ausgesucht haben, die in irgendeiner Form mit dem Ort vertraut waren. Das Phantombild des Bombenüberbringers hat keinerlei Ähnlichkeiten mit den männlichen Mitgliedern der NSU-Kerngruppe – sondern mit einem Kölner Neonazi, der für den Verfassungsschutz arbeitete und gegen den nie ermittelt wurde.
 
Wer also waren die (Mit-)Täter*innen? Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz bei den Taten des NSU? Diese Fragen stellen sich auch heute noch. Auch wenn wir keine zufriedenstellenden Antworten von den Behörden erwarten, werden wir weiterhin auf Aufklärung drängen.
 
Rechter Terror und rassistische Gewalt
Rechter Terror ist in letzter Zeit erneut in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Dies nicht zuletzt durch den Mord am 2. Juni 2019 am Präsidenten des Regierungspräsidiums Kassel, Walter Lübcke, vermutlich begangen durch den Neonazi Stephan Ernst. Ernst ist kein Einzeltäter. Er ist eingebunden in die Strukturen der extremen Rechten und verantwortlich für zahlreiche rassistische Übergriffe. Nach einer sechsjährigen Haftstrafe war er spätestens 2001 vor allem im Umfeld der NPD aktiv und nahm in der Folgezeit an zahlreichen Neonazitreffen teil. Dabei unterhielt er u.a. Kontakte zu Stanley Röske, der als Führungsfigur von „Combat 18″ (C 18) in Deutschland gilt und ebenfalls wie Ernst der Kasseler Neonaziszene angehört. Bei C 18 wieder einmal mit dabei ist der Verfassungsschutz, der die Strukturen dieser Terrorstruktur jahrelang geleugnet oder verharmlost hat – vermutlich um V-Leute zu schützen und Informationen über Combat 18 abzuschöpfen.
 
Am 9. Oktober 2019 versuchte Stephan Baillet, schwer bewaffnet in eine Synagoge einzudringen, die aufgrund des höchsten jüdischen Feiertags, Jom Kippur, voll besetzt war. Nur durch die von den Menschen in der Synagoge getroffenen Schutzmaßnahmen konnte ein Massaker verhindert werden. Vor der Tür erschoss er daraufhin Jana L., die zufällig an dem Ort vorbeigelaufen war, und fuhr anschließend weiter zu einem kurdischen Schnellimbiss, wo er Kevin S. tötete. Zudem verletzte er zwei weitere Menschen schwer. Mit der Kamera eines an seinem Helm befestigten Smartphones filmte Balliet das Attentat aus seiner Sicht. Das Töten inszenierte er als Live-Event wie einen Egoshooter.
 
Opferperspektiven in den Mittelpunkt stellen
Der gezielte und einer Hinrichtung gleichende Mord an Walter Lübcke stellt eine Zäsur in der Geschichte des Rechtsterrorismus in der BRD dar. Mordphantasien gegen demokratische Politiker*innen gab es viele, doch der Lübcke-Mord war der erste erfolgreiche Versuch, eine*n Politiker*in im Amt zu töten. Auch wenn ein gesellschaftlicher Aufschrei ausgeblieben ist, gab es doch eine verstärkte öffentliche Wahrnehmung der Thematik Rechtsterrorismus. Dass diese erst jetzt erfolgt ist, mag unter anderem daran liegen, dass es sich bei dem Opfer um einen weißen, deutschen Politiker im Amt gehandelt hat. 
In Medien und Politik wird angesichts dieser schrecklichen Ereignisse häufig von einer neuen Qualität rechter Gewalt gesprochen. Angesichts der Kontinuität rechter, rassistischer und antisemitischer Übergriffe und Anschläge ist diese Bewertung eine Missachtung der Opfer. Nicht nur derjenigen, die von den Anschlägen des NSU betroffen waren. Für Menschen, die nicht in das Weltbild der extremen Rechten passen, ist die Gefahr durch rassistische Gewalt spätestens seit Beginn der 1990er Jahre deutlich spürbar. Seit dem „Wendejahr“ zählt die Amadeu Antonio Stiftung insgesamt 198 Todesopfer rechter Gewalt sowie 12 weitere Verdachtsfälle. 
 
Terroristische Gewalt ist Teil einer viel umfangreicheren Gewalt von rechtsaußen und für die Betroffenen eine alltägliche Realität in Deutschland. Die Forderungen nach Schutz der Opfer von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsterrorismus müssen endlich ernst genommen werden. Die Solidarität mit den Betroffenen rechter Gewalt sowie die Etablierung der Betroffenenperspektive sind vor dem Hintergrund der zunehmenden Normalisierung reaktionärer und rassistischer Weltbilder dringend geboten. 
 
Gesellschaftliche Entwicklungen
Rechte Gewalt muss im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen gesehen werden. Walter Lübcke hatte sich für die Aufnahme von Geflüchteten eingesetzt – für den Täter Stefan Ernst, gegen den auch wegen eines Messerangriffs auf einen irakischen Flüchtling ermittelt wird, vermutlich ein Grund für den Mord. Rechte Gewalt geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern wird ausgeübt vor dem Hintergrund politischer Debatten und gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie wird von Täter*innen verübt, die sich bestätigt fühlen von einem politischen Klima, in dem sich die Grenzen des Sagbaren online wie offline immer weiter verschieben und die Feindbildbestimmung zur Normalität der politischen Auseinandersetzung geworden ist. Im Kontext der von Ressentiments geleiteten Diskussionen um Geflüchtete und der von Abwehr bestimmten bundesdeutschen Flüchtlingspolitik beruht der Mord an Lübcke auf einer allgemeinen Diskursverschiebung nach rechts.
 
Auch Stephan Balliet berief sich explizit und implizit auf eben entsprechende Debatten. In einem vor der Tat ins Internet gestellten Video leugnet Balliet den Holocaust und spricht vom Feminismus, der der Grund für die niedrige Geburtenrate im Westen sei, was wiederum zu Massenimmigration führe. Schuld an allem sei laut Balliet „der Jude“. Dieser offensive Antisemitismus als zentrales Tatmotiv wird hier in einen direkten Zusammenhang mit mittlerweile gesellschaftsfähigen Narrativen von „Genderwahn“ und einem vermeintlichen „Bevölkerungsaustausch“ gebracht. Thesen, die heute vor allem in der AfD-Anhängerschaft weit verbreitet sind. 
 
Nährboden für rechte Gewalt
Die Alternative für Deutschland“ ist geprägt von autoritär-regressiven Gesellschaftsbildern und einem völkischen Nations- und Staatsverständnis. Sie propagiert ein als ethnisch und kulturell homogen gedachtes Volk und eine exklusive Solidarität. Diejenigen, die nicht diesen Vorstellungen entsprechen, sollen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Solche Feindbildsetzungen und populistische Inszenierungen gehören zum alltäglichen Handwerkszeug der Partei, die letztlich auf der Politisierung von Emotionen wie Verunsicherung, Angst, Ressentiments und Wut basieren. 
Der AfD-Bundessprecher Stephan Brandner retweetete im Nachgang zu den Ereignissen in Halle den Beitrag eines Nutzers, in dem es hieß: „Die Opfer des Amokläufers von Halle waren Jana, eine Deutsche […] und Kevin S., ein Bio-Deutscher. Warum lungern Politiker mit Kerzen in Moscheen und Synagogen rum?“ Der diesen Aussagen inhärente Antisemitismus und Rassismus knüpft unmittelbar an die Narrative des Täters von Halle an. Jüd*innen und Muslim*innen werden als ein Kollektiv markiert, das als eine Art „Fremdkörper“ innerhalb der eigenen Gesellschaft darstellt und dem das „Deutschsein“ abgesprochen wird. Eine für die AfD ganz typische Rhetorik, an die rechtsterroristische Täter*innen unmittelbar anschließen können und die ihnen eine vermeintliche Legitimation ihrer Taten verheißt. 
 
Kontakte zum Neonazismus
Doch nicht nur, dass die AfD und ihre Spitzenpolitiker*innen in einem diskursiven Feld rechtsterroristischen Taten einen fruchtbaren Boden bereiten, die Partei unterhält auch gezielt Kontakte in die neonazistische Szene. Nur ein Beispiel von vielen ist der Brandenburger Landeschef Andreas Kalbitz, dessen jahrzehntelange Karriere in der extremen Rechten mittlerweile gut dokumentiert ist. So nahm Kalbitz nachweislich beispielsweise noch 2007 mit einer deutschen Neonazi-Delegation an einer Demonstration der „Goldenen Morgenröte“ in Athen teil. In dem Hotel, in dem die Delegation untergebracht war, wurde eine Hakenkreuzfahne gehisst. Zudem mobilisiert die AfD gewaltaffine rechte Stoßtrupps, die im Sinne einer zum Teil paramilitärischen Art und Weise die Umsetzungen der AfD-Forderungen in den Parlamenten auf der Straße übernehmen. Auf das Wahlverhalten der eigenen Anhänger*innenschaft hatten die Berichte über Neonazi-Verbindungen keinen erkennbaren Einfluss. Einem Großteil der Wähler*innen ist es vermutlich egal. Etliche scheinen die Partei auch nicht trotz ihrer rechtsradikalen Spitzenkandidat*innen, sondern gerade wegen dieser Personen zu wählen. Allen gemein zumindest ist, dass sie die rassistischen Inhalte der AfD teilen und ihre hetzerische Parolen gutheißen. 
 
Bündnisse im konservativen Lager
Auch wenn nach dem Mord an Walter Lübcke die Forderungen aus den Reihen der CDU/CSU nach Abgrenzung in Richtung der AfD nur schwach vernehmbar waren, sind die Christdemokrat*innen in dieser Frage gespalten. Ein Großteil der Funktionär*innen distanziert sich zumindest verbal von der völkisch-nationalistischen Partei. Dagegen mehren sich vor allem in den ostdeutschen CDU-Landesverbänden die Stimmen, die sich für eine Zusammenarbeit mit der AfD stark machen. Um des eigenen Machterhalts Willens werden Koalitionen mit der extremen Rechten mittlerweile denkbar. Für einige stellen sie rein funktionale Bündnisse dar, in anderen konservativen Milieus gibt es aber auch etliche inhaltliche Überschneidungen mit der AfD
Die „WerteUnion“, als rechter Flügel von konservativen Mitglieder der Unionsparteien, steht charakteristisch für diese Schnittmengen. Auch personell gibt es Berührungspunkte zur AfD, beispielhaft zu sehen am Kölner Rechtsanwalt Höcker. Höcker ist Pressesprecher der WerteUnion und hat mittlerweile zudem den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen in seiner Kanzlei beschäftigt. Die Kanzlei Höcker vertritt in vielen Fällen AfD-Mandant*innen, wie Andreas Kalbitz, und deren Interessen. 
 
Es ist und bleibt die Aufgabe aller Antifaschist*innen, die AfD weiterhin als das zu charakterisieren, was sie ist: Eine rechtsradikale und faschistoide Partei, die niemals eine politische Legitimität besitzen kann! 
Die Solidarität mit Betroffenen rechter Gewalt muss somit auch immer ein konsequentes Eintreten gegen den (Alltags-)Rassismus, die völkisch-nationalistische Agenda und den Autoritarismus der AfD beinhalten!
 
Vor diesem Hintergrund wollen wir am 19.01.2020, dem neunzehnten Jahrestag des Probsteigassenanschlags, allen Betroffenen und Todesopfern rechter Gewalt gedenken!