Kundgebung zur Erinnerung an den rassistischen Bombenanschlag in der Probsteigasse

Zur Kundgebung am 19. Jahrestag des NSU-Anschlags in der Probsteigasse versammelten sich etwa 250 Menschen zu einer Gedenkversanstaltung am Bahnhofsvorplatz. In verschiedenen Reden wurde u.a. auf die immer noch ungeklärten Fragen im Zusammenhang mit dem Anschlag verwiesen und eine lückenlose Aufklärung gefordert. Mit einer Schweigeminute und Gedenkaktion wurde den Opfern des NSU und allen Opfern rechter Gewalt gedacht.
 
Wir dokumentieren an dieser Stelle unsere Rede:
 
Eine rassistische Tat wie der Bombenanschlag auf die Probsteigasse vor neunzehn Jahren steht nie allein im gesellschaftlichen Raum. Es gibt einen politischen Nährboden dafür. Und auch das Verhalten der staatlichen Behörden NACH einer solchen Tat ist entscheidend. Auch wenn die Hauptakteure sich selbst enttarnen oder auffliegen: Solange die Netzwerke dahinter nicht aufgedeckt werden, ist der Nährboden für weitere Taten gegeben.

Im Fall des NSU haben wir erlebt, wie die staatlichen Verfolgungsbehörden alles dafür tun, dass die ganze Wahrheit NICHT ans Licht kommt. Und wenn sie dafür Akten schreddern und lügen. Der NSU war kein Einzelfall. Nein, es hat Methode, dass die Täter über Jahre unbehelligt morden konnten. Und es zeigt: Solange die Netzwerke dahinter nicht aufgedeckt werden, ist der Nährboden für weitere Taten gegeben.
 
Ein Beispiel: am 2. Juni 2019 wird der Präsident des Regierungspräsidiums Kassel, Walter Lübcke erschossen Er galt als Hassfigur der rechtsradikalen und rassistischen Szene. Bisher bekannt ist die Beteiligung des Neonazis Stephan Ernst an der Tat. Sehr wahrscheinlich gab es einen zweiten Täter. Stephan Ernst war schon Jahre vor der Tat in der Naziszene aktiv und veretzt. Vor allen in „Combat 18“-Kreisen. Er war vor allem mords-gefährlich. Denn Ernst deponierte 1993 eine Rohrbombe in einer Geflüchtetenunterkunft. 
Dennoch wurde nach dem Mord an Lübcke von staatlicher Seite erst so getan, als wäre Stephan Ernst ein Einzeltäter.
 
Doch es gibt eine erschreckende Verbindung im Fall Stephan Ernst zu den Sprengstoffanschlägen in der Probsteigasse und der Keupstraße und den zehn Menschen, die der NSU ermordete.
 
In Kassel, der Stadt, in der Walter Lübcke lebte, wurde Halit Yozgat 2006 mit zwei gezielten Kopfschüssen in seinem Internetcafé hingerichtet. Der Mord geschah in Anwesenheit eines Mitarbeiters des hessischen Verfassungsschutzes. Andreas Temme.
 
„Zufälligerweise“ hielt sich Temme auch am 9. Juni 2004 in Köln auf, als der NSU in der Keupstraße die Bombe zündete. 
 
Temme wurde schließlich ins Regierungspräsidium Kassel versetzt. Der Behörde, der Walter Lübcke vorstand.
 
Noch während seiner Zeit als sogenannter „Verfassungsschützer“ führte Temme den V-Mann Benjamin G. alias „Gemüse“, der in der Kasseler Neonazi-Szene aktiv war. „Gemüse“ gab im NSU-Ausschuss zu Protokoll, Stephan Ernst zu kennen. Es ist  nicht ausgeschlossen, dass auch Temme Stephan Ernst kannte.
 
Bis heute ist Temmes Rolle im NSU-Komplex nicht aufgeklärt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Öffentlichkeit nun darüber aufgeklärt wird, welche Verbindungen Temme weiter in die Hessische Neonazi-Szene hatte und hat.
 
Genau so wie der NSU massive Unterstützung durch ein gut organisiertes Nazi-Netzwerk hatte, in dem der Verfassungsschutz verstrickt war, müssen wir davon ausgehen, dass auch Ernst den Rückhalt eines Netzwerks hatte. Und wir müssen leider wieder davon ausgehen, dass dieser Staat wieder alles dafür tun wird, damit die Beteiligten dieses Netzwerkes NICHT enttarnt werden.
 
Aber auch wenn wie am 9. Oktober 2019 in Halle ein tatsächlich selbstständig handelnder Täter ein rassistisches Massaker in einer Synagoge plante und durchzuführen versuchte, gibt es ein verbindenes Motiv dieser Tat zu dem Bombenanschlag in der Probsteigasse: 
Nämlich RASSISMUS.
 
Und es ist erschreckend und frustrierend, wie nach jeder neuen rassistisch- und antisemitisch-motivierten Tat wieder behauptet wird, es handele sich um eine neue Qualität rechter Gewalt.
Das ist falsch.
 
Rechte Gewalt ist alltägliche Realität in Deutschland. Und das seit Jahrezehnten.
Rechte Gewalt gedeiht in einem rechten, rassistischen gesellschaftlichen Klima.
Rechte Gewalt geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern wird ausgeübt vor dem Hintergrund politischer Debatten und gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie wird von Täter*innen verübt, die sich bestätigt fühlen von einem politischen Klima, in dem sich die Grenzen des Sagbaren online wie offline immer weiter verschieben.
 
Ein Klima, das nicht zuletzt von der sogenannten Alternative für Deutschland immer weiter angeheizt wird.
 
Die AFD ist geprägt von autoritär-regressiven Gesellschaftsbildern und einem völkischen Nations- und Staatsverständnis. Sie propagiert ein als ethnisch und kulturell homogen gedachtes Volk und eine ausschließende Solidarität. Diejenigen, die nicht diesen Vorstellungen entsprechen, sollen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Solche Feindbildsetzungen und Inszenierungen gehören zum alltäglichen Handwerkszeug der Partei, die Emotionen wie Verunsicherung, Angst, Ressentiments und Wut politisiert. 
Der AfD-Bundessprecher Stephan Brandner retweetete im Nachgang zu den Ereignissen in Halle den Beitrag eines Nutzers, in dem es hieß: „Die Opfer des Amokläufers von Halle waren Jana, eine Deutsche […] und Kevin S., ein Bio-Deutscher. Warum lungern Politiker mit Kerzen in Moscheen und Synagogen rum?“ 
 
Jüd*innen und Muslim*innen werden als ein Kollektiv behauptet. Als eine Art „Fremdkörper“ innerhalb der eigenen Gesellschaft, dem das „Deutschsein“ abgesprochen wird. Eine für die AfD  typische Rhetorik, an die rechtsterroristische Täter*innen anschließen können. 
 
Auch wenn nach dem Mord an Walter Lübcke die Forderungen aus den Reihen der CDU/CSU nach Abgrenzung in Richtung der AfD schwach vernehmbar waren: Die Christdemokrat*innen sind in dieser Frage gespalten. 
In ostdeutschen CDU-Landesverbänden mehren sich die Stimmen, die sich für eine Zusammenarbeit mit der AfD stark machen. Um des eigenen Machterhalts Willens werden Koalitionen mit der extremen Rechten denkbar. Für einige stellen sie rein funktionale Bündnisse dar, in anderen konservativen Milieus gibt es aber  inhaltliche Überschneidungen mit der AfD. 
Die „WerteUnion“ steht für diese Schnittmenge. Sie ist rechter Flügel der CDU/ CSU. Und scheut keine Berührungspunkte zur AfD, beispielhaft zu sehen am Kölner Rechtsanwalt Höcker. Höcker ist Pressesprecher der „WerteUnion“ und hat den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen in seiner Kanzlei beschäftigt. Die Kanzlei Höcker vertritt in vielen Fällen AfD-Mandant*innen, wie Andreas Kalbitz, und deren Interessen. 
Und am Rande sei bemerkt, dass Höcker als Rechtsanwalt auch den Porzer-CDU-Politiker Hans-Josef-Bähner vertritt., der aus vermutlich rassistischen Motiven einen 20jährigen angeschossen hat. 
Bähner teilte mehrfach rassistische Postings in den sozialen Medien. Darunter auch den Post eines AfD-Politikers, in dem es heißt, dass es die AfD gebe, weil Merkel die CDU „entführt“ habe. Bähner teilte auch regelmäßig Fahndungsaufrufe der Polizei, wenn sie nach arabisch oder afrikanisch aussehenden Tatverdächtigen suchte. 
 
Natürlich gibt es gravierende Unterschiede zwischen einem Täter wie Bähner und einem nationalsozialistschen Terrornetzwerk wie dem NSU. Aber der Nährboden, auf dem diese Täter agieren, ist derselbe. 
Unsere Solidarität gilt den Betroffenen rechter Gewalt. Wir müssen konsequent gegen Alltagsrassismus eintreten. Wir müssen weiterhin Aufklärung fordern und uns gegen die völkisch-nationalistische Propaganda von Parteien stellen.
 
Vor diesem Hintergrund wollen wir heute am neunzehnten Jahrestag des Probsteigassenanschlags, allen Betroffenen und Todesopfern rechter Gewalt gedenken! 
 
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Taten und der Rassismus der Täterinnen in Vergessenheit gerät. 
Kein Vergessen. Kein Schlussstrich.